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Smart gründen trotz Krise?
Kieler Gründer machen es vor

In Corona-Zeiten eine Reise-App entwickeln? Und damit auch noch Großes vorhaben? Dass das geht und zu einem modernen Gründergeist passt, zeigt Tim Grossmann aus Kiel, Gründer von „Explo“.

Nicht weniger als ein „Unicorn“ („Einhorn“), also ein Startup, das noch vor einem Börsengang von Investoren mit über einer Milliarde US-Dollar bewertet wird, möchte Grossmann mit seinem Reiseerlebnis-Startup etablieren. Er ist bereits auf „einem guten Weg“ dahin, wie er sagt. Obwohl im Jahr 2022, in dem auch Grossmann mit „Explo“ startete, deutschlandweit weniger Startups gegründet worden sind als noch im Vorjahr. Das geht aus einem Bericht des Startup-Bundesverbandes und des Infoportals startupdetector von Mitte Januar hervor. Die allgemein schwierige wirtschaftliche Situation, Krieg in der Ukraine, explodierende Kosten, Inflation: Laut Jannis Gilde, Projektleiter Research beim Startup-Bundesverband, zeigt sich die Krise in Form einer großen Unsicherheit in der Gründerszene, die zum Rückgang der Neugründungen beigetragen habe: Im Startup-Ökosystem sei der gründertypisch nach vorne schauende Optimismus ein bisschen verloren gegangen.

Kiel: ein „Leuchtturm“ in der Startup-Szene

Auch Schleswig-Holstein verliert laut den Zahlen des Bundesverbandes: Neugründungen sind hier ebenfalls rückläufig – mit minus 3 Prozent jedoch weniger drastisch als in anderen Regionen. Kiel ist der „Startup-Leuchtturm“ des Landes: Die Stadt weist mit 46 neuen Startups (gefolgt von Lübeck mit 26 Neugründungen und dem Kreis Stormarn mit 21) seit 2019 knapp das Doppelte an Neugründungen im Vergleich zu anderen Regionen Schleswig-Holsteins auf.

Auch Tim Grossmann ist mit dem Firmensitz von „Explo“ am „Leuchtturm“-Standort Kiel angesiedelt. Aus privaten Gründen hat es den gebürtigen Schwaben aus der Nähe von Stuttgart an die Ostsee verschlagen. Der studierte Informatiker ist für seinen früheren Arbeitgeber Bosch weit herumgekommen – unter anderem hat er 2019 in Singapur und im Silicon Valley in Palo Alto gearbeitet. Auf seinen beruflichen Reisen hat er miterlebt, wie andere Influencer ihre Texte zu attraktiven Reisehotspots vorfertigten, „etwa Tipps für Berlin, die sie cool finden“. Damals kam Tim Grossmann erstmals die Idee, ein Tool zu entwickeln, um solche Reisetipps interaktiver zu gestalten. Daraus ist seine heutige „Explo“-App entstanden, die nicht nur tolle Orte aufzeigt und die Reiselust weckt, sondern aktuell noch viel mehr bietet: vom Tool zur persönlichen Reiseplanung über Kartenansichten bis hin zu mehr Infos zu Reiseentfernung, Preisen und Tipps zu Restaurants, Museen und mehr.

„Entdecke, wo du lebst“

Anfang 2021 fing Tim Grossmann dann an, seine App, die Inhalte wie TikTok oder die Instagram-Reels per Kurzvideo vermittelt, konzeptionell zu planen – während die Corona-Pandemie in vollem Gange war und Reisen gar nicht wirklich möglich waren. Ein Ende der Pandemie war damals auch nicht in Sicht. Doch das hat Tim Grossmann nicht abgeschreckt. „Wir hatten von Anfang an die Idee, die Leute können nicht reisen, wollen aber trotzdem was erleben.“ Also hat er sich eine Lösung überlegt, mit der er den richtigen Riecher bewiesen hat: Er hat mit seiner App nicht das Reisen zu fernen Urlaubszielen in den Vordergrund gestellt, sondern das Motto „entdecke, wo du lebst“. Somit konnten Nutzer mit seiner Anwendung tolle Orte in der eigenen Umgebung kennen lernen. Das hat funktioniert, die App wurde trotz Corona gut angenommen. Denn schließlich ging auch der allgemeine Trend während Corona dahin, die eigene Heimat zu entdecken und Urlaub in Deutschland zu machen.

Natürlich lassen sich mit „Explo“ auch Ziele weltweit entdecken. Doch für Tim Grossmann ist seine App bis heute nicht nur etwas für Fernreisen oder nur für die Freizeit: Schließlich könne man auch nicht jeden Tag in Urlaub fahren. Die Idee sei vielmehr, dass man jeden einzelnen Tag etwas erleben könne, „was diesen Tag unvergesslich macht“. Und das könne auch in der unmittelbaren Umgebung passieren. Trotz des Erfolges von „Explo“, der sich in der Pandemie schon abzeichnete – einfach war weder die Entwicklung der Anwendung mit vielen Testphasen noch die Gründung im Krisenjahr 2022. „Es gab oft die Situation, jetzt geht es nicht mehr weiter.“ Manchmal sei das für ihn „irre“ gewesen, er hat sich gefragt, „was zur Hölle machst du da“? Andererseits hat der Gründer auch immer das Potenzial seiner Idee gesehen und im Auge behalten. Heute hat das Startup über 10.000 monatlich aktive Nutzer und über 190 Influencer, die ihre Inhalte dort teilen. Mitte des Jahres will Tim Grossmann eine Seed-Runde über drei Millionen Euro angehen, also eine Finanzierung in dieser Höhe durch Investoren generieren. Mehrere Förderungen hat er für „Explo“ bereits bekommen, unter anderem aus den Gründer-Fördertöpfen von Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Stadtstaaten und ein Bundesland verlieren deutlich

Die Report-Reihe „Next Generation – Startup-Neugründungen in Deutschland” des Startup-Bundesverbandes, in der die Neugründungszahlen erfasst sind, zeigt regional starke Unterschiede auf: Insbesondere die Stadtstaaten Hamburg (minus 31 Prozent) und Berlin (minus 29 Prozent) sowie Baden-Württemberg (minus 29 Prozent) hatten 2022 deutlich weniger Neugründungen zu verzeichnen. Dennoch sind die beiden Stadtstaaten mit einem Viertel aller Gründungen selbstverständlich wichtige Cluster für das Startup-Ökosystem. Bei den Städten liegt mit 14,5 Gründungen pro 100.000 Einwohnern erstmals München vor Berlin mit 13,6.

Laut Neugründungsbericht profitiert Münchens Startup-Szene von der Nähe zu Hochschulen, ebenso wie andere Universitätsstädte, neben Aachen, Heidelberg oder Karlsruhe eben auch Kiel: Für Michael Hartke, der Landessprechende für Schleswig-Holstein beim Startup-Verband, ist nicht nur der Faktor Universitätsstadt für Kiels Leuchtturm-Position verantwortlich. Er geht noch einen Schritt weiter: Denn in Kiel seien es auch spezifische Studiengänge, die zukunftsweisend und somit auch erfolgversprechend für Startups seien, zum Beispiel im Bereich Umwelttechnologien. Dieser Sektor sowie der der Medien sind auch die Bereiche unter den Gründungs-Top-Ten des Verbandsberichts, die 2022 Zuwachs verzeichnen konnten (Umwelttechnologien plus 14 Prozent, Medien plus sieben Prozent).

„Burn before earn“ passé?

Michael Hartke, Landessprechender für Schleswig-Holstein des Startup-Bundesverbandes.

Michael Hartke hat sein eigenes Startup clarifydata, eine Datenaktionsplattform für Stadtwerke mit der Expertise für künstliche Intelligenz in der Energieversorgung, bereits 2017 gegründet. Auch er ist mit seinem Unternehmen in Kiel beheimatet. Seiner Einschätzung zufolge hat nicht nur die nationale und internationale wirtschaftliche Schieflage zum Rückgang bei den Neugründungen beigetragen. „Gründungscluster entstehen häufig, weil die Leute keine Jobs haben.“ Hier würde aber gerade ein Wechsel hin zu einem Arbeitnehmermarkt stattfinden, wo Firmen sich zunehmend um Arbeitskräfte bewerben statt umgekehrt. Zudem seien durch die drohende Rezension Investoren vorsichtiger. Somit würde Risikokapital wegbrechen, was eine Gründung zusätzlich weniger attraktiv mache. Für Michael Hartke findet aktuell ein „großer Paradigmenwechsel“ statt: Seien Startups früher dem Motto gefolgt „Burn before earn“ (sinngemäß muss erst viel Geld „verbrannt“ werden, bevor etwas verdient wird), müssten Startup-Gründer heutzutage möglichst früh Geld verdienen. 

Tim Grossmann hat sich durch die schwere wirtschaftliche Zeit von seinem Gründungsvorhaben nicht abbringen lassen. Und auch der Projektleiter beim Startup-Verband, Jannis Gilde sieht in der Krise nicht nur Schlechtes, sondern eine Chance: „Denn wer es in solch einer Phase schafft, hat Resilienz bewiesen.“ Gründer, die jetzt ihr Startup auf den Weg bringen möchten, sollten laut Gilde krisenbedingt überdies sehr klar herausarbeiten, was der Mehrwert ihres Produkts ist.

Erstmalig seit Erfassung der Daten durch den Startup-Bundesverband und das Infoportal startupdetector im Jahr 2019 liegt die Zahl der Startup-Neugründungen unter dem Vorjahreswert. In Schleswig-Holstein ist seit Mitte 2021 die Zahl der Startup-Neugründungen zunächst deutlich gestiegen. Jedoch war im zweiten Halbjahr 2022 mit minus 38 Prozent ein Rückgang zu verzeichnen.Seit 2019 gab es in Schleswig-Holstein 210 Startup-Neugründungen, deutschlandweit gab es im gleichen Zeitraum knapp 11.000. Vier von zehn (87) Neugründungen entfallen auf Kiel, Lübeck und Flensburg– die weiteren 123 neuen Startups entfallen auf 92 verschiedene Orte im Land. Im deutschlandweiten Vergleich bei den Gründungen pro Kopf seit 2019 liegt Kiel auf Platz 23und Lübeck auf Platz 36 und somitim oberen Mittelfeld der deutschen Städte ab 150.000 Einwohnern.

Und wie sieht es deutschlandweit aus?

In ganz Deutschland sah die Gründungsaktivität wie folgt aus: Wurden 2021 noch 3196 Unternehmen neu gegründet, so sank der Wert 2022 um 18 Prozent auf 2618 Gründungen. Im zweiten Halbjahr ist mit 33 Prozent ein besonders starker Rückgang gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu verzeichnen. Somit ist es das schwächste Halbjahr seit Beginn der Erfassung im Jahr 2019. Die stärksten Einbrüche in den Gründungs-Top-Ten fielen auf die Branchen E-Commerce (minus 39 Prozent), Industrie (minus 26 Prozent) und Software (minus 26 Prozent). Ein deutliches Wachstum kann neben den bereits erwähnten Bereichen Umwelttechnologien (plus 14 Prozent) und Medien (plus sieben Prozent) der Krypto-Sektor (plus 65 Prozent) verzeichnen. Mit ihrem Bericht „Next Generation – Start-up-Neugründungen in Deutschland“ erfassen Startup-Verband und startupdetector die Gründungsdynamik in Deutschland. Grundlage sind die von startupdetector erfassten Daten zu Start-up-Neugründungen in Deutschland, die auf Handelsregisterbekanntmachungen beruhen und seit 2019 erhoben werden.